prooemium
Vorwort
postquam opusculum quoddam velut exemplum meditandi
de ratione fidei
cogentibus me precibus quorundam fratrum
in persona alicuius tacite secum ratiocinando
quæ nesciat investigantis
considerans illud esse multorum concatenatione contextum
argumentorum
coepi mecum quærere
si forte posset inveniri unum argumentum
quod nullo alio ad se probandum quam se solo
indigeret
et solum ad astruendum
quia deus vere est
et quia est summum bonum nullo alio indigens
et quo omnia indigent ut sint et ut bene sint
et quæcumque de divina credimus substantia
sufficeret.
Nachdem ich ein kleines Werk als Beispiel dafür, wie man über
den Grund des Glaubens nachsinnt,
auf zwingende Bitten einiger Mitbrüder hin
in der Rolle eines, der in stiller Überlegung das, was er nicht
weiß, untersucht,
bedachte ich, wie jenes durch Verkettung vieler Beweise verwoben sei,
und begann mich innerlich zu fragen,
ob sich nicht ein Argument finden ließe,
das keines anderen bedürfte, um sich zu beweisen, als seiner allein,
und das allein zur Unterstützung dessen,
daß Gott in Wahrheit IST
und daß er das höchste Gute ist, das keines anderen bedarf
und dessen alles bedarf, um zu sein und sich wohl zu befinden,
und was immer wir von der göttlichen Wesenheit glauben,
hinreichte.
ad quod cum sæpe studioseque cogitationem
converterem
atque aliquando mihi videretur iam posse capi
quod quærebam
aliquando mentis aciem omnino fugeret:
tandem desperans volui cessare
velut ab inquisitione rei quam inveniri esset impossibile.
Als ich oft und eifrig das Denken darauf hinwandte
und es mir einmal schien, es könne gefaßt werden, was ich
suchte,
das andere mal es der Schärfe des Geistes gänzlich entwich,
wollte ich endlich verzweifelnd davon ablassen
wie von der Erforschung einer Sache, die zu finden unmöglich wäre.
sed cum illam cogitationem
ne mentem meam frustra occupando
ab aliis in quibus proficere possem impediret
penitus a me vellem excludere:
tunc magis ac magis
nolenti et defendenti
se coepit cum importunitate quadam ingerere.
Aber als ich jenen Gedanken,
damit er nicht meinen Geist durch fruchtlose Beschäftigung
von anderem, worin ich voranschreiten könnte, abhalte,
radikal aus meinem Bewußtsein ausschließen wollte,
da begann er immer mehr und mehr sich mir,
der es nicht wollte und sich dagegen wehrte,
mit einer gewissen Penetranz aufzudrängen.
cum igitur quadam die vehementer eius importunitati
resistendo fatigarer
in ipso cogitationum conflictu sic se obtulit
quod desperaveram
ut studiose cogitationem amplecterer
quam sollicitus repellebam.
Als ich also eines Tages in der Abwehr seiner Penetranz müde wurde,
da bot sich in diesem Streit der Gedanken das, was ich aufgegeben hatte,
so dar,
daß ich eifrig den Gedanken umfassen mußte,
den ich doch zugleich beunruhigt zurückzuweisen pflegte.
æstimans igitur quod me gaudebam invenisse
si scriptum esset alicui legenti placiturum
de hoc ipso et de quibusdam aliis
sub persona conantis erigere mentem suam ad contemplandum
deum
et quærentis intelligere
quod credit
subditum scripsi opusculum.
In der Meinung nun, es werde das, was ich mich freute gefunden zu haben,
wenn es niedergeschrieben würde, einem Leser gefallen,
verfaßte ich eben darüber und über einiges andere
in der Rolle eines, der es unternimmt, seinen Geist zur Betrachtung
Gottes zu erheben,
und der zu verstehen sucht, was er glaubt,
das vorliegende kleine Werk.
et quoniam nec istud nec
illud cuius supra memini
dignum libri nomine aut cui auctoris præponeretur
nomen iudicabam
nec tamen eadem sine aliquo titulo
quo aliquem in cuius manus venirent quodam modo
ad se legendum invitarent
unicuique suum dedi titulum
ut prius 'exemplum meditandi de
ratione fidei'
et sequens
'fides quærens intellectum' diceretur.
Und weil ich weder dieses noch jenes, das ich oben erwähnte,
des Namens eines Buches wert erachtete, oder daß ihm der Name
des Verfassers vorangesetzt werde,
und sie doch nicht ohne einen Titel,
durch den sie jemanden, in dessen Hände sie gelangten, irgendwie
zum Lesen einlüden,
von mir wegzugeben dürfen glaubte
so gab ich einem jeden seinen Titel,
auf daß das erste "Beispiel dafür, wie man über den
Grund des Glaubens nachsinnt",
und das folgende "Glaube, der nach Einsicht sucht" genannt werde.
sed cum iam a pluribus cum his titulis utrumque
transcriptum esset
coegerunt me plures
et maxime reverendus archiepiscopus Lugdunensis
Hugo nomine
fungens in Gallia legatione apostolica
qui mihi hoc ex apostolica præcepit auctoritate
ut nomen meum illis præscriberem.
Da aber beide bereits von mehreren mit diesen Titeln abgeschrieben
waren,
nötigten mich manche,
voran der Hochwürdige Erzbischof von Lyon namens Hugo,
der als Apostolischer Legat in Gallien fungiert –
indem er mir das kraft Apostolischer Autorität befahl –,
daß ich ihnen meinen Namen voransetze.
quod ut aptius fieret
illud quidem 'Monologion' id
est 'soliloquium'
istud vero 'Proslogion' id
est 'alloquium' nominavi.
Damit das passender geschehe,
nannte ich jenes "Monologion", daß heißt "Selbstgespräch",
dieses aber "Proslogion", das heißt "Anrede".
CAPITULA
Inhaltsverzeichnis
prooemium
capitula
I. excitatio mentis ad contemplandum
Deum.
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Erweckung des Geistes zur Betrachtung Gottes.
II. quod vere sit Deus.
III. quod non possit cogitari non
esse.
IV. quomodo insipiens dixit in corde,
quod cogitari non potest.
V. quod Deus sit quidquid melius
est esse quam non esse
2. Daß in Wahrheit Gott IST.
3. Daß nicht gedacht werden kann, daß er nicht IST.
4. Wie der Tor im Herzen gesprochen hat was nicht gedacht werden kann.
5. Daß Gott all das ist, was besser ist zu sein als nicht zu
sein;
und daß er, allein durch sich bestehend, alles
andere aus dem Nichts erschafft.
VI. quomodo sit sensibilis, cum
non sit corpus.
VII. quomodo sit omnipotens, cum
multa non possit.
VIII. quomodo sit misericors er
impassibilis.
IX. quomodo totus iustus er summe
iustus parcat malis
X. quomodo iuste puniat et iuste parcat
malis.
XI. quomodo universæ viæ
Domini misericordia et veritas
6. Wie er empfindet, obgleich er nicht Körper ist.
7. Wie er allmächtig ist, obgleich er vieles nicht kann.
8. Wie er barmherzig und leidensunfähig ist.
9. Wie der ganz Gerechte und höchst Gerechte die Bösen verschont;
und daß er gerecht sich der Bösen erbarmt.
10. Wie er die Bösen gerecht bestraft und gerecht verschont.
11. Wie alle Wege des Herrn Erbarmen und Wahrheit,
und doch: gerecht der Herr auf allen seinen Wegen.
XII. quod Deus sit ipsa vita qua
vivit
XIII. quomodo solus sit
incircumscriptus et æternus
XIV. quomodo et cur videtur
er non videtur Deus a quærentibus eum.
XV. quod maior sit
quam cogitari possit.
XVI. quod hæc
sit lux inaccessibilis quam inhabitat.
XVII. quod in Deo sit
harmonia odor sapor lenitas
12. Daß Gott das Leben selbst ist, durch das er lebt;
13. Wie er allein unbegrenzt und ewig ist,
obgleich andere Geister uinbegrenzt und ewig sind.
14. Wie und warum Gott von denen, die ihn suchen, gesehen und nicht gesehen
wird.
15. Daß er größer ist, als gedacht werden kann.
16. Daß dies das unzugängliche Licht ist, in dem er wohnt.
17. Daß in Gott Wohlklang, Wohlgeruch, Wohlgeschmack, Sanftheit
und Schönheit
auf seine unaussprechliche Weise sind.
XVIII. quod in Deo
nec in æternitate eius quæ ipse est nullæ sint partes.
XIX. quod non sit in
loco aut tempore sed omnia sint in illo.
XX. quod sit ante et
ultra omnia etiam æterna.
XXI. an hoc sit sæculum
sæculi sive sæcula sæculorum.
XXII. quod solus sit
quod est er qui est.
XXIII. quod hoc bonum
sit pariter Pater er Filius et Spiritus Sanctus
XXIV. coniectatio quale
et quantum sit hoc bonum.
XXV. quæ et quanta
bona sint fruentibus eo.
XXVI. an hoc sit gaudium
plenum quod promittit Dominus.
18. Daß weder in Gott noch in seiner Ewigkeit, die er selbst
ist, Teile sind.
19. Daß er nicht an einem Ort oder in der Zeit ist, sondern alles
in ihm ist.
20. Daß er vor allen Dingen und über alle Dinge, auch die
ewigen, hinaus ist.
21. Ob das die Ewigkeit der Ewigkeit oder die Ewigkeiten der Ewigkeiten
ist.
22. Daß er allein ist, was er ist und der er ist.
23. Daß dieses Gut in gleicher Weise Vater und Sohn und Heiliger
Geist ist;
und daß dieses das eine Notwendige ist, das das gesamte und ganze
und alleinige Gut ist.
24. Mutmaßung, von welcher Art und Größe dieses Gut ist.
25. Welche und wie hohe Güter die haben, die es genießen.
26. Ob das die vollkommene Freude ist, die der Herr verspricht.
I. excitatio
mentis ad contemplandum Deum
1. KAPITEL: Erweckung des Geistes zur Betrachtung Gottes
eia nunc homuncio
fuge paululum occupationes tuas
absconde te modicum a tumultuosis cogitationibus
tuis
abice nunc onerosas curas
et postpone laboriosas distentiones tuas.
Wohlan, jetzt, Menschlein,
entfliehe ein wenig deinen Beschäftigungen,
verbirg dich ein Weilchen vor deinen lärmenden Gedanken.
Wirf ab jetzt deine beschwerlichen Sorgen
und lege deine mühevollen Geschäfte beiseite.
vaca aliquantulum Deo
et requiesce aliquantulum in eo.
Sei frei ein wenig für Gott
und ruhe ein bißchen in ihm.
"intra in cubiculum" [Mt 6,6] mentis tuæ
exclude omnia præter Deum et quæ
te iuvent ad quærendum eum
et "clauso ostio" [Mt 6,6] quære eum.
Tritt ein in die Kammer deines Herzens,
halte fern alles außer Gott und was dir hilft, ihn zu suchen,
und hinter verschlossener Türe suche ihn.
dic nunc totum "cor
meum"
dic nunc Deo:
"quæro vultum tuum
vultum tuum Domine
requiro" [Ps 26,8].
Sprich jetzt, mein ganzes Herz,
sprich jetzt zu Gott:
'Ich suche Dein Antlitz;
Dein Antlitz, Herr, suche ich'.
eia nunc ergo tu Domine
Deus meus doce cor meum
ubi et quomodo quærat
ubi et quomodo te inveniat.
Wohlan, jetzt also, Du Herr, mein Gott, lehre mein Herz,
wo und wie es Dich suche,
wo und wie es Dich finde.
Domine si hic non
es
ubi te quæram absentem?
si autem ubique es
cur non video præsentem?
Herr, wenn Du hier nicht bist,
wo soll ich suchen Dich, den Abwesenden?
Wenn Du aber überall bist,
warum sehe ich nicht den Anwesenden?
sed certe habitas "lucem inaccessibilem" [1 Tim
6,16]
et ubi est lux inaccessibilis?
aut quomodo accedam ad lucem inaccessibilem?
aut quis ducet et inducet in illam
ut videam te in illa?
Doch gewiß wohnst Du in einem unzugänglichen Lichte.
Und wo ist das unzugängliche Licht?
Oder wie kann ich zu dem unzugänglichen Lichte gelangen?
Oder wer wird mich führen und hineinführen in es,
daß ich Dich sehe in jenem?
deinde quibus signis
qua facie te quæram?
numquam te vidi Domine
Deus meus
non novi faciem tuam.
Sodann: unter welchen Zeichen,
unter welchem Antlitz soll ich Dich suchen?
Nie habe ich Dich gesehen, Herr, mein Gott,
nicht kenne ich Dein Antlitz.
quid faciet altissime
Domine
quid faciet iste tuus longinquus exsul?
quid faciet servus tuus anxius
amore tui
et longe "proiectus a facie tua"? [Ps 50,13]
Was soll tun, höchster Herr,
was soll tun dieser Dein in die Ferne Verbannter?
was soll tun Dein Knecht, der ängstlich besorgt ist in Liebe zu
Dir
und weit hinweg von Deinem Antlitz verstoßen ist?
anhelat videre te et nimis abest illi facies
tua
accedere ad te desiderat et inaccessibilis est
habitatio tua
invenire te cupit et nescit locum tuum
quærere te affectat et ignorat vultum tuum.
Er lechzt Dich zu sehen – und allzu ferne ist jenem Dein Antlitz;
er begehrt zu Dir zu gelangen – und unzugänglich ist Deine Wohnung;
er wünscht Dich zu finden – und weiß nicht Deinen Ort;
er verlangt Dich zu suchen – und kennt nicht Dein Antlitz.
Domine Deus meus
es et Dominus meus es
et numquam te vidi
tu me fecisti et refecisti et omnia bona tu mihi
contulisti
et nondum novi te
denique ad te videndum factus sum
et nondum feci propter
quod factus sum.
Herr, mein Gott bist Du und mein Herr bist Du –
und niemals habe ich Dich gesehen;
Du hast mich geschaffen und wiedergeschaffen und alle Güter hast
Du mir verliehen –
und noch habe ich Dich nicht erkannt;
schließlich wurde ich geschaffen, um Dich zu sehen –
und noch habe ich nicht getan, wofür ich geschaffen wurde.
o misera sors hominis
cum hoc perdidit ad
quod factus est
o durus et dirus casus ille.
O elendes Los der Menschen,
da er das verlor, wozu er geschaffen ward –
o jener harte und unheilvolle Fall!
heu quid perdidit
et quid invenit
quid abscessit et quid remansit
perdidit beatitudinem ad
quam factus est
et invenit miseriam propter
quod factus non est
abscessit sine quo
nihil felix est
et remansit quod
per se non nisi miserum est.
Ach, was hat er verloren und was gefunden,
was ging dahin und was blieb zurück?
Er verlor die Seligkeit, zu der er geschaffen ward,
und fand das Elend, zu dem er nicht geschaffen ward;
es ging dahin, ohne das nichts glücklich ist,
und blieb zurück, was aus sich nichts als nur elend ist.
"manducabat tunc homo panem angelorum" [Ps 77,25]
quem nunc esurit
manducat nunc "panem dolorum" [Ps 126,2]
quem tunc nesciebat.
'Es aß damals der Mensch das Brot der Engel', – nach dem er jetzt
hungert;
jetzt ißt er 'das Brot der Schmerzen', das er damals nicht kannte.
heu publicus luctus hominum
universalis planctus filiorum Adæ.
Ach, öffentliche Trauer der Menschen,
allgemeines Wehklagen der Söhne Adams!
ille ructabat saturitate nos suspiramus esurie
ille abundabat nos mendicamus
ille feliciter tenebat et misere deseruit
nos infeliciter
egemus et miserabiliter desideramus
et heu vacui remanemus.
Jener rülpste vor Sattheit – wir seufzen vor Hunger;
jener hatte im Überfluß – wir betteln;
jener besaß glücklich und verließ elendiglich –
wir darben unglücklich und begehren erbärmlich
und bleiben, ach! mit leeren Händen.
cur non nobis custodivit cum
facile posset quo tam graviter careremus?
quare sic nobis obseravit lucem et obduxit nos
tenebris?
ut quid nobis abstulit vitam et inflixit mortem?
Warum hat er, obschon er es leicht gekonnt, uns nicht bewahrt, was
wir so schwer entbehren?
Warum hat er so uns das Licht abgeriegelt und uns mit Finsternis bedeckt?
Wozu nahm er uns das Leben und brachte den Tod?
ærumnosi unde
sumus expulsi quo sumus impulsi
unde præcipitati quo
obruti?
a patria in exsilium
a visione Dei in cæcitatem nostram
a iucunditate immortalitatis in amaritudinem
et horrorem mortis.
Wir Elenden, von wo sind wir vertrieben, wohin sind wir getrieben,
von wo abgestürzt, wohin vergraben?
Von der Heimat in die Verbannung,
von der Anschauung Gottes in unsere Blindheit,
vom Ergötzen der Unsterblichkeit in die Bitternis und das Grauen
des Todes.
misera mutatio de
quanto bono in quantum malum
grave damnum gravis
dolor grave totum
sed heu me miserum
unum de aliis miseris filiis Evæ elongatis
a Deo.
Unseliger Wandel! Von welchem Guten zu welchem Übel!
Schwer der Schaden, schwer der Schmerz, schwer das Ganze!
Doch Ach, ich Armer,
einer von den anderen armen Kindern Evas, die von Gott entfernt sind!
quid incepi quid
effeci
quo tendebam quo
deveni
ad quid aspirabam in
quibus suspiro?
Was habe ich begonnen, was zuwege gebracht?
Wohin zielte ich, wohin bin ich gelangt?
Wonach trachtete ich, worin seufze ich?
"quæsivi bona et ecce turbatio" [Ps 121,9;
Jer 14,19]
tendebam in Deum et offendi in me ipsum
requiem quærebam in secreto meo
et "tribulationem et dolorem inveni" [Ps 114,3]
in intimis meis.
Ich suchte Gutes – und siehe Verwirrung!
Ich trachtete nach Gott – und stieß auf mich selber;
Ruhe suchte ich in meiner Einsamkeit –
und Trübsal und Schmerz fand ich in meinem Innern.
volebam ridere a gaudio mentis meæ
et cogor "rugire a gemitu cordis mei" [Ps 37,9]
sperabatur lætitia et ecce unde
densentur suspiria.
Ich wollte lachen aus der Freude meines Gemütes –
und bin gezwungen zu schreien ob des Stöhnens meines Herzens;
Freude ward erhofft – und siehe, woher die Seufzer sich verdichten!
et o "tu Domine
usquequo?
usquequo Domine
oblivisceris nos
usquequo avertis faciem tuam a nobis"?
quando "respicies et exaudies" nos
quando "illuminabis oculos" nostros
et "ostendes" [Ps 6,4; Ps 12,1-4] nobis "faciem
tuam" [Ps 79,4.8]?
quando restitues te nobis?
Und Du, o Herr, wie lange noch?
Wie lange, Herr, wirst Du uns vergessen,
wie lange wendest Du Dein Antlitz von uns?
Wann wirst Du auf uns schauen und uns erhören,
wann wirst Du unsere Augen erleuchten
und uns Dein Antlitz zeigen?
Wann wirst Du Dich uns wiedergeben?
respice Domine
exaudi
illumina nos
ostende nobis teipsum.
Schau her, Herr, erhöre,
erleuchte uns,
zeig Dich uns selbst!
restitue te nobis ut
bene sit nobis
sine quo tam male est nobis
miserare labores et conatus nostros ad te
qui nihil valemus sine te.
Gib Dich uns zurück, damit es uns wohl ergehe,
ohne den es uns so schlecht geht;
habe Mitleid mit unseren Bemühungen und Versuchen zu Dir hin,
die wir nichts ohne Dich vermögen.
invita nos
"adiuva" nos [Ps 78,9].
Du lädst uns ein,
hilf uns!
obsecro Domine
ne desperem suspirando
sed respirem sperando
obsecro Domine
amaricatum est cor meum sua desolatione
indulca illud tua consolatione
obsecro Domine
esuriens incepi quærere te
ne desinam ieiunus de te.
Ich flehe, Herr, laß mich nicht seufzend verzweifeln,
sondern in Hoffnung aufatmen!
Ich flehe, Herr, bitter geworden ist mein Herz in seiner Verlassenheit,
versöhne es durch Deinen Trost!
Ich flehe, Herr, hungernd begann ich Dich zu suchen,
laß mich nicht nüchtern von Dir aufhören!
famelicus accessi
ne recedam impastus
pauper veni ad divitem miser
ad misericordem
ne redeam vacuus et contemptus.
Hungrig nahte ich mich,
laß mich nicht ungespeist weggehen!
Arm kam ich zum Reichen, elend zum Barmherzigen,
laß mich nicht nicht leer und verschmäht zurückgehen.
et si "antequam comedam suspiro"
[Iob 3,24]
da vel post suspiria quod comedam.
Und wenn ich seufze, bevor ich esse,
gib wenigstens nach den Seufzen, was ich essen kann.
Domine incurvatus
non possum nisi deorsum aspicere
erige me ut possim
sursum intendere.
Herr, niedergebeugt kann ich nur nach unten schauen;
richte mich auf, damit ich nach oben mich wenden kann!
"iniquitates meæ supergressæ caput
meum" obvolvunt me
"et sicut onus grave" [Ps 37,5] gravant me.
Meine Sünden, die mir über den Kopf gewachsen, hüllen
mich ein
und drücken mich nieder wie eine schwere Last.
evolve me exonera
me
ne "urgeat puteus" earum "os suum super me" [Ps
68,16].
Enthülle mich, entlaste mich,
daß die Grube ihren Schlund über mir nicht schließe.
liceat mihi suspicere lucem tuam
vel de longe vel
de profundo.
Vergönne mir, Dein Licht zu schauen,
wenigstens von ferne, wenigstens aus der Tiefe.
doce me quærere te et ostende te quærenti
quia nec quærere te possum nisi
tu doceas
nec invenire nisi
te ostendas.
Lehre mich Dich suchen und zeige Dich dem Suchenden;
denn ich kann Dich weder suchen, wenn Du es nicht lehrst,
noch finden, wenn Du dich nicht zeigst.
quæram te desiderando
desiderem quærendo
inveniam amando
amem inveniendo.
Laß mich Dich suchen, indem ich nach Dir verlange,
laß mich nach Dir verlangen, indem ich Dich suche!
Laß mich Dich finden, indem ich Dich liebe,
laß mich Dich lieben, indem ich Dich finde!
fateor Domine
et gratias ago
quia creasti in me hanc "imaginem tuam" [Gen
1,27]
ut tui memor te cogitem te
amem.
Ich bekenne, Herr, und sage Dank,
daß Du in mir dieses Dein Bild geschaffen hast,
damit ich, Deiner mich erinnernd, Dich denke, Dich liebe.
sed sic est abolita attritione vitiorum
sic offuscata fumo peccatorum
ut non possit facere ad
quod facta est
nisi tu renoves et reformes eam.
Aber so sehr ist es zerstört durch aufreibende Laster,
so sehr ist es verrußt durch den Rauch der Sünden,
daß es nicht tun kann, wozu es gemacht ist,
wenn Du es nicht erneuerst und wiedergestaltest.
non tento Domine
penetrare altitudinem tuam
quia nullatenus comparo illi intellectum meum
sed desidero aliquatenus intelligere veritatem
tuam
quam credit et amat cor meum.
Ich versuche nicht, Herr, Deine Tiefe zu durchdringen,
denn auf keine Weise stelle ich ihr meinen Verstand gleich;
aber mich verlangt, Deine Wahrheit einigermaßen einzusehen,
die mein Herz glaubt und liebt.
neque enim quæro intelligere ut credam
sed credo ut intelligam.
Ich suche ja auch nicht einzusehen, um zu glauben,
sondern ich glaube, um einzusehen.
nam et hoc credo
quia "nisi credidero
non intelligam" [Is 7,9].
Denn auch das glaube ich:
wenn ich nicht glaube,
werde ich nicht einsehen.
II. quod
vere sit Deus
2. KAPITEL: Daß in Wahrheit Gott IST
ergo Domine qui
das fidei intellectum
da mihi ut
quantum scis expedire intelligam
quia es sicut credimus
et hoc es quod credimus.
Also, Herr, der Du die Glaubenseinsicht gibst,
verleihe mir, daß ich, soweit Du es nützlich weißt,
einsehe,
daß Du BIST, wie wir glauben,
und das bist, was wir glauben.
et quidem credimus
te
esse aliquid quo nihil maius cogitari possit.
Und zwar glauben wir,
daß Du "etwas bist, über dem nichts Größeres
gedacht werden kann".
an ergo non est aliqua talis natura
quia "dixit insipiens in corde suo non
est Deus" [Ps 13,1; 52,1]?
sed certe ipse idem insipiens cum
audit hoc ipsum quod dico
'aliquid quo maius nihil cogitari potest'
intelligit quod audit
et quod intelligit in
intellectu eius est
etiam si non intelligat illud esse.
Gibt es also ein solches Wesen nicht,
weil "der Tor in seinem Herzen gesprochen hat: es ist kein Gott"?
Aber sicherlich, wenn dieser Tor eben das hört, was ich sage:
"etwas, über dem nichts Größeres gedacht werden kann",
versteht er, was er hört;
und was er versteht, ist in seinem Verstande,
auch wenn er nicht einsieht, daß jenes da ist.
aliud enim est rem esse in intellectu
alium intelligere rem esse.
Denn ein anderes ist es, daß ein Ding im Verstande ist,
ein anderes, einzusehen, daß das Ding da ist.
nam cum pictor præcogitat quæ facturus
est
habet quidem in intellectu sed
nondum intelligit
esse quod nondum fecit
cum vero iam pinxit
et habet in intellectu et intelligit
esse quod iam fecit.
Denn wenn ein Maler vorausdenkt, was er schaffen wird,
hat er zwar im Verstande, erkennt aber noch nicht,
daß da ist, was er noch nicht geschaffen hat;
wenn er es aber schon gemalt hat,
hat er sowohl im Verstande, als er auch einsieht,
daß da ist, was er bereits geschaffen hat.
convincitur ergo etiam insipiens
esse vel in intellectu aliquid quo nihil maius
cogitari potest
quia hoc cum audit
intelligit
et quidquid intelligitur in
intellectu est.
So wird also auch der Tor überführt,
daß wenigstens im Verstande etwas ist, über dem nichts Größeres
gedacht werden kann,
weil er das versteht, wenn er es hört
und was immer verstanden wird, ist im Verstande.
et certe id quo maius cogitari nequit
non potest esse in solo intellectu.
Und sicherlich kann "das, über dem Größeres nicht gedacht
werden kann",
nicht im Verstande allein sein.
si enim vel in solo intellectu est
potest cogitari esse et in re
quod maius est.
Denn wenn es wenigstens allein im Verstande ist,
kann gedacht werden, daß es auch in Wirklichkeit da sei –
was ja größer ist.
si ergo id quo maius cogitari non potest
est in solo intellectu
id ipsum quo maius cogitari non potest
est quo maius cogitari potest.
sed certe hoc esse non potest.
Wenn also "das, über dem Größeres nicht gedacht werden
kann",
allein im Verstande ist,
so ist eben "das, über dem Größeres nicht gedacht werden
kann",
etwas, über dem doch ein Größeres gedacht werden kann.
Das aber kann gewiß nicht sein.
existit ergo procul dubio aliquid quo maius cogitari
non valet
et in intellectu et in re.
Es existiert also ohne Zweifel "etwas, über dem Größeres
nicht gedacht werden kann",
sowohl im Verstande als auch in Wirklichkeit.
III. quod
non possit cogitari non esse
3. KAPITEL: Daß nicht gedacht werden kann, daß er nicht
IST
quod utique sic vere est
ut nec cogitari possit non esse.
Das IST schlechthin so wahrhaft,
daß auch nicht gedacht werden kann, daß es nicht IST.
nam potest cogitari esse aliquid
quod non possit cogitari non esse
quod maius est quam quod non esse cogitari potest.
Denn es läßt sich denken, daß etwas da ist,
von dem nicht gedacht werden kann, daß es nicht da sei –
was größer ist als etwas, von dem gedacht werden kann, daß
es auch nicht da sei.
quare si id quo maius nequit cogitari
potest cogitari non esse
id ipsum quo maius cogitari nequit
non est id quo maius cogitari nequit
quod convenire non potest.
Wenn deshalb von dem, "über dem Größeres nicht gedacht
werden kann",
gedacht werden kann, daß es auch nicht da sei,
so ist eben "das, über dem Größeres nicht gedacht werden
kann",
nicht das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann;
was sich nicht vereinbaren läßt.
sic ergo vere est aliquid quo maius cogitari
non potest
ut nec cogitari possit non esse
et hoc es tu Domine
Deus noster.
So wirklich also IST "etwas, über dem Größeres nicht
gedacht werden kann",
daß nicht einmal gedacht werden kann, es sei nicht da;
und das bist Du, Herr, unser Gott.
sic ergo vere es Domine
Deus meus
ut nec cogitari possis non esse.
So wirklich also BIST Du, Herr, mein Gott,
daß von Dir nicht einmal gedacht werden kann, Du seiest nicht
da.
et merito
si enim aliqua mens posset cogitare aliquid melius
te
ascenderet creatura super creatorem et iudicaret
de creatore
quod valde est absurdum.
Und mit Recht:
denn wenn ein Geist etwas Besseres als Dich denken könnte,
erhöbe sich das Geschöpf über den Schöpfer und
urteilte über den Schöpfer,
was überaus widersinnig wäre.
et quidem quidquid est aliud præter te
solum
potest cogitari non esse.
Und in der Tat läßt sich von allem, was sonst ist, außer
Dir allein,
denken, daß es nicht da ist.
solus igitur verissime omnium et ideo maxime
omnium habes esse
quia quidquid aliud est non
sic vere et idcirco minus habet esse.
Somit hast Du allein am wahrsten von allem und damit am meisten von
allem das SEIN,
weil alles, was sonst da ist, nicht so wahr und daher weniger das Sein
hat.
cur itaque "dixit insipiens in corde suo
non est Deus" [Ps 13,1; 52,1]
cum tam in promptu sit rationali menti
te maxime omnium esse?
cur nisi quia stultus
et insipiens?
Warum also sprach der Tor in seinem Herzen: es "ist kein Gott",
da es dem vernunftbegabten Geiste so offen zutage liegt,
daß Du am meisten von allem BIST?
Warum, wenn nicht deshalb, weil er töricht und unvernünftig
ist?
IV. quomodo
insipiens dixit in corde
4. KAPITEL: Wie "der Tor im Herzen gesprochen hat",
was nicht gedacht werden kann
verum quomodo dixit in corde quod cogitare non
potuit
aut quomodo cogitare non potuit quod dixit in
corde
cum idem sit dicere in corde et cogitare?
Wie aber hat er im Herzen gesprochen, was er nicht hat denken können;
oder wie hat er nicht denken können, was er im Herzen gesprochen
hat,
da doch im Herzen sprechen und denken dasselbe ist?
quod si vere immo
quia vere et cogitavit quia dixit in corde
et non dixit in corde quia
cogitare non potuit
non uno tantum modo dicitur aliquid in corde
et cogitatur.
Wenn er dies wirklich, vielmehr weil er es wirklich gedacht hat, da
er es im Herzen gesprochen hat,
und nicht im Herzen gesprochen hat, da er es nicht denken konnte,
so wird nicht nur auf eine Weise im Herzen gesprochen oder gedacht.
aliter enim cogitatur re cum
vox eam significans cogitatur
aliter cum id ipsum quod res est intelligitur.
Anders nämlich wird ein Ding gedacht, wenn der es bezeichnende
Laut gedacht wird,
anders, wenn eben das, was das Ding ist, eingesehen wird.
illo itaque modo potest cogitari Deus non esse
isto vero minime.
Auf jene Art also kann von Gott gedacht werden, daß er nicht
da sei,
auf diese jedoch keinesfalls.
nullus quippe intelligens id quod Deus est
potest cogitare quia Deus non est
licet hæc verba dicat in corde
aut sine ulla aut cum aliqua extranea significatione.
Denn niemand, der das einsieht, was Gott ist,
kann denken, daß Gott nicht da sei,
auch wenn er diese Worte im Herzen spricht,
sei es ohne jede Bedeutung, sei es mit einer fremden Bedeutung.
Deus enim est
id quo maius cogitari non potest.
Denn Gott ist
"das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann".
quod qui bene intelligit utique
intelligit
id ipsum sic esse
ut nec cogitatione queat non esse.
Wer das gut einsieht, sieht durchaus ein,
daß dies so IST,
daß es auch nicht in Gedanken nicht da sein kann.
qui ergo intelligit sic esse Deum
nequit eum non esse cogitare.
Wer also einsieht, daß Gott auf diese Weise IST,
der kann von ihm nicht einmal denken, daß er nicht da sei.
gratias tibi bone
Domine gratias tibi
quia quod prius credidi te donante
iam sic intelligo te illuminante
ut si te esse nolim
credere
non possim non intelligere.
Dank Dir, guter Herr, Dank Dir,
daß ich das, was ich zuvor durch Dein Geschenk geglaubt habe,
jetzt durch Deine Erleuchtung so einsehe,
daß ich, wollte ich es nicht glauben, daß Du BIST,
es nicht nicht einsehen könnte.
V. quod Deus sit quidquid melius
est esse quam non esse
et solus existens per se omnia alia faciat de
nihilo
5. KAPITEL: Daß Gott all das ist, was besser ist zu sein als
nicht zu sein;
und daß er, allein durch sich existierend, alles andere aus dem
Nichts erschafft
quid igitur es Domine
Deus quo nil maius
valet cogitari?
Was also bist Du, Herr,
Du Gott, "über dem nichts Größeres gedacht werden kann"?
sed quid es nisi
id
quod summum omnium solum existens per seipsum
omnia alia fecit de nihilo?
Aber was bist Du, wenn nicht das,
was als das Höchste von allem allein durch sich existierend,
alles andere aus dem Nichts geschaffen hat?
quidquid enim hoc non est
minus est quam cogitari possit
sed hoc de te cogitari non potest.
Denn alles, was das nicht ist,
ist weniger als das, was gedacht werden kann;
aber von Dir kann das nicht gedacht werden.
quod ergo bonum deest summo bono
per quod est omne bonum?
Welches Gute also könnte dem höchsten Guten fehlen,
durch das jedes Gute ist?
tu es itaque iustus verax
beatus
et quidquid melius est esse quam non esse.
Du bist also gerecht, wahrhaftig, selig
und alles was besser ist zu sein als nicht zu sein.
melius namque est esse iustum quam non iustum
beatum quam non.
Denn besser ist es, gerecht zu sein, als nicht gerecht;
selig, als nicht selig.
VI. quomodo
sit sensibilis
6. KAPITEL: Wie er empfindet,
obwohl er nicht Körper ist
verum cum melius sit esse sensibilem omnipotentem
misericordem impassibilem
quam non esse
quomodo es sensibilis si
non es corpus
aut omnipotens si
omnia non potes
aut misericors simul et impassibilis?
Aber da besser ist empfindend, allmächtig, barmherzig, leidensunfähig
zu sein
als nicht zu sein:
wie bist Du empfindend, wenn Du nicht Körper bist;
oder allmächtig, wenn Du nicht alles kannst;
oder barmherzig und leidensunfähig zugleich?
nam si sola corporea sunt sensibilia
quoniam sensus circa corpus et in corpore sunt
quomodo es sensibilis
cum non sis corpus sed
summus spiritus
qui corpore melior est?
Denn wenn nur das Körperliche empfindend ist,
weil die Sinne um den Körper und im Körper sind:
wie bist Du empfindend,
da Du nicht Körper bist, sondern höchster Geist,
der besser ist als der Körper?
sed si sentire non nisi cognoscere aut non nisi
ad cognoscendum est
qui enim sentit cognoscit secundum sensuum proprietatem
ut per visum colores
per gustum sapores
non inconvenienter dicitur
aliquo modo sentire
quidquid aliquo modo cognoscit.
Aber wenn empfinden nichts anderes als erkennen und fürs Erkennen
ist –
wer nämlich empfindet, erkennt nach Eigenart der Sinne,
wie durch den Gesichtssinn die Farben,
durch den Geschmackssinn den Geschmack –,
so sagt man nicht unpassend,
alles, was irgendwie erkennt, empfinde irgendwie.
ergo Domine
quamvis non sis corpus
vere tamen eo modo summe sensibilis es
quo summe omnia cognoscis
non quo animal corporeo sensu cognoscit.
Also, Herr, obschon Du nicht Körper bist,
bist Du doch wirklich in der Weise höchst empfindend,
in der Du alles erkennst,
nicht in der das Sinnenwesen mit körperlichem Sinne erkennt.
VII. quomodo
sit omnipotens
7. KAPITEL: Wie er allmächtig ist,
obgleich er vieles nicht kann
sed et omnipotens quomodo es
si omnia non potes?
Aber wie bist Du auch allmächtig,
wenn Du nicht alles kannst?
aut si non potes corrumpi nec mentiri
nec facere verum esse falsum
ut quod factum est non esse factum et
plura similiter
quomodo potes omnia?
Oder wenn Du nicht vemichtet werden kannst noch lügen
noch machen, daß Wahres falsch ist –
wie was geschehen ist, nicht geschehen sei –, und ähnliches mehr:
wie kannst Du alles?
an hæc posse non est potentia sed
impotentia?
nam qui hæc potest
quod sibi non expedit et quod non debet potest.
Wohl weil dies können nicht Macht, sondern Ohnmacht ist?
Denn wer das kann,
kann, was ihm nicht zuträglich ist und was er nicht darf.
quæ quanto magis potest
tanto magis adversitas et perversitas possunt
in illum
et ipse minus contra illas.
Je mehr er das kann,
desto mehr vermögen Widriges und Verkehrtes gegen ihn
und er desto weniger gegen sie.
qui ergo sic potest
non potentia potest sed
impotentia.
Wer also so kann,
kann nicht durch Macht, sondern durch Ohnmacht.
non enim ideo dicitur posse quia
ipse possit
sed quia sua impotentia facit aliud in se posse
sive aliquo alio genere loquendi sicut
multa improprie dicuntur.
Denn nicht deshalb sagt man, er könne, weil er selber kann,
sondern weil seine Ohnmacht bewirkt, daß anderes gegen ihn Macht
hat;
oder mit einer anderen Redeweise, wie vieles uneigentlich ausgesagt
wird.
ut cum ponimus 'esse' pro 'non esse'
et 'facere' pro eo quod est 'non facere'
aut pro 'nihil facere'.
So wenn wir "sein" für "nicht sein" setzen,
oder "tun" für das, was "nicht tun" ist oder für "nichts
tun".
nam sæpe dicimus ei qui
rem aliquam esse negat
'sic est quemadmodum
dicis esse'
cum magis proprie videatur dici
'sic non est quemadmodum dicis non esse'.
Denn oft sagen wir zu einem, der die Existenz eines Dinges leugnet:
"es ist so, wie du sagst, daß es ist",
obwohl offenbar mit mehr Recht gesagt wird:
"es ist nicht so, wie du sagst, daß es nicht ist".
item dicimus
'iste sedet sicut
ille facit'
aut 'iste quiescit
sicut ille facit'
cum 'sedere' sit quiddam non facere et 'quiescere'
sit nihil facere.
Ebenso sagen wir:
"der da sitzt, wie jener tut",
oder: "der da ruht, wie jener tut",
obwohl "sitzen" etwas nicht tun und "ruhen" nichts tun ist.
sic itaque cum dicitur
habere potentiam faciendi aut patiendi quod sibi
non expedit aut quod non debet
impotentia intelligitur per potentiam
quia quo plus habet hanc potentiam
eo adversitas et perversitas in illum sunt potentiores
et ille contra eas impotentior.
So wird also, wenn man von jemand sagt,
er habe die Macht zu tun oder zu leiden, was ihm nicht zuträglich
ist oder was er nicht darf,
Ohnmacht als Macht verstanden;
denn je mehr er diese Macht hat,
umso mächtiger sind Widrigkeit und Verkehrtheit gegen ihn
und umso ohnmächtiger ist er gegen sie.
ergo Domine Deus
inde verius et omnipotens
quia nihil potes per impotentiam
et nihil potest contra te.
Also, Herr, Du, Gott, bist deshalb umso wahrer allmächtig,
weil Du nichts durch Ohnmacht kannst
und nichts gegen Dich Macht hat.
VIII. quomodo
sit misericors et impassibilis
8. KAPITEL: Wie er barmherzig und leidensunfähig ist
sed et misericors simul et impassibilis quomodo
es?
nam si es impassibilis non
compateris
si non compateris non
est tibi miserum cor
ex compassione miseri quod
est esse misericordem.
Aber wie bist Du zugleich barmherzig und leidensunfähig?
Denn wenn Du leidensunfähig bist, hast Du kein Mitgefühl;
wenn Du nicht mitfühlst, hast Du kein Herz,
das aus Mitgefühl mit dem Elenden elend ist, was barmherzig sein
heißt.
at si non es misericors
unde miseris est tanta consolatio?
Wenn Du aber nicht barmherzig bist,
woher kommt den Elenden ein solcher Trost?
quomodo ergo es et non es misericors Domine
nisi quia es misericors secundum nos
et non es secundum te?
Wie also, Herr, bist Du und bist nicht barmherzig, wenn nicht deshalb,
weil Du barmherzig bist in Rücksicht auf uns
und nicht in Hinsicht auf Dich?
es quippe secundum nostrum sensum
et non es secundum tuum.
Du bist es nämlich nach unserem Empfinden
und nicht nach Deinem.
etenim cum tu respicis nos miseros
nos sentimus misericordis effectum
tu non sentis affectum.
Denn wenn Du Dich uns Elenden zuwendest,
verspüren wir die Wirkung des Barmherzigen,
Du spürst keine Rührung.
et misericors es igitur
quia misericors salvas et peccatoribus tuis parcis
et misericors non es
quia nulla miseriæ compassione afficeris.
Du bist also barmherzig,
weil Du die Elenden rettest und Deine Sünder verschonst;
und Du bist nicht barmherzig,
weil Du von keinem Mitleiden mit dem Elend berührt wirst.
IX. quomodo
totus iustus es et summe iustus parcat malis
et quod iuste misereatur malis
9. KAPITEL: Wie der ganz Gerechte und höchst Gerechte die Bösen
verschont;
und daß er gerecht sich der Bösen erbarmt
verum malis quomodo parcis
si es totus iustus et summe iustus?
Jedoch wie verschonst Du die Bösen,
wenn Du ganz gerecht und höchst gerecht bist?
quomodo enim totus et summe iustus facit aliquid
non iustum?
aut quæ iustitia est
merenti mortem æternam dare vitam sempiternam?
Denn wie tut der ganz und höchst Gerechte etwas Nicht-Gerechtes?
Oder was für eine Gerechtigkeit ist es,
dem, der ewigen Tod verdient, ewiges Leben zu schenken?
unde ergo bone Deus
bone bonis et malis
unde tibi salvare malos
si hoc non est iustum et
tu facis aliquid non iustum?
Woher also, guter Herr, gut den Guten und Bösen,
woher (kommt) Dir (zu), die Bösen zu retten,
wenn das nicht gerecht ist und Du etwas Nicht-Gerechtes nicht tust?
an quia bonitas tua est incomprehensibilis
latet hoc in "luce inaccessibili quam habitas"
[1 Tim 6.16]?
Wohl deshalb, weil das, da Deine Güte unbegreiflich ist,
in dem unzugänglichen Licht, in dem Du wohnst, verborgen liegt?
vere in altissimo et secretissimo bonitatis tuæ
latet fons
unde manat fluvius misericordiæ tuæ.
Wahrhaft, im geheimsten Ahgrund Deiner Güte liegt die Quelle verborgen,
aus der der Strom Deines Erbarmens fließt.
nam cum totus et summe iustus sis
tamen idcirco etiam malis benignus es
quia totus summe bonus es.
Denn obschon Du ganz und höchst gerecht bist,
so bist Du dennoch deshalb auch den Bösen gut,
weil Du in Deiner Ganzheit höchst gut bist.
minus namque bonus esses
si nulli malo esses benignus.
Denn weniger gut wärest Du,
wenn Du Dich keinem Bösen gütig erzeigtest.
melior est enim qui et bonis et malis bonus est
quam qui bonis tantum est bonus
et melior est qui
malis et puniendo et parcendo est bonus
quam qui puniendo tantum.
Denn besser ist, wer sowohl Guten wie Bösen gut ist,
als wer nur Guten gut ist.
Und besser ist, wer sowohl durch Strafen und Schonen gut ist,
als wer nur durch Strafen.
ideo ergo misericors es
quia totus et summe bonus es.
Deshalb also bist Du barmherzig,
weil Du in Deiner Ganzheit und im höchsten Maße gut bist.
et cum forsitan videatur
cur bonis bona et malis mala retribuas
illud certe penitus est mirandum
cur tu totus iustus et nullo egens
malis et reis tuis bona tribuas.
Und wenn es etwa ersichtlich ist,
warum Du den Guten Gutes und den Bösen Böses vergiltst:
das ist sicherlich zutiefst verwunderlich,
warum Du, der ganz Gerechte, der niemandes bedarf,
den Bösen und Deinen Schuldnern Gutes erweisest.
o altitudo bonitatis tuæ Deus
et videtur unde
sis misericors
et non pervidetur.
O Tiefe Deiner Güte, Gott!
es wird geschaut, woher Du barmherzig bist,
und es wird nicht durchschaut.
cernitur unde flumen
manat
et non perspicitur fons unde
nascatur.
Es wird gesehen, woher der Strom fließt,
und es wird nicht bis auf die Quelle gesellen, aus der er entspringt.
nam et de plenitudine bonitatis est
quia peccatoribus tuis pius es
et in altitudine bonitatis latet
qua ratione hoc es.
Denn aus der Fülle der Güte stammt es,
daß Du Deinen Sündern gnädig bist;
und in der Tiefe der Güte ist der Grund verborgen,
warum Du das bist.
etenim licet bonis bona et malis mala ex bonitate
retribuas
ratio tamen iustitiæ hoc postulare videtur.
Denn wenn Du schon den Guten Gutes und den Bösen Böses aus
Güte vergiltst,
scheint es doch der Begriff der Gerechtigkeit zu fordern.
cum vero malis bona tribuis
et scitur quia summe
bonus hoc facere voluit
et mirum est cur
summe iustus hoc velle potuit.
Wenn Du aber den Bösen Gutes erweisest,
so weiß man, daß der höchst Gute das tun wollte,
und es ist verwunderlich, warum der höchst Gerechte das hat tun
können.
o misericordia
de quam opulenta dulcedine et dulci opulentia
nobis profluis
o immensitas bonitatis Dei
quo affectu amanda es peccatoribus.
O Barmherzigkeit,
aus welch reicher Süßigkeit und süßem Reichtum
erfließt Du uns!
O Unermeßlichkeit der Güte Gottes,
mit welchem Verlangen müssen die Sünder Dich lieben!
iustos enim salvas iustitia comitante
istos vero liberas iustitia damnante
illos meritis adiuvantibus
istos meritis repugnantibus
illos bona quæ
dedisti cognoscendo
istos mala quæ
odisti ignoscendo.
Denn die Gerechten rettest Du, weil die Gerechtigkeit sie begleitet;
jene dagegen befreist Du, obschon die Gerechtigkeit sie verdammt.
Jene, weil ihnen ihre Verdienste helfen;
diese, obschon ihre Verdienste dagegenstehen;
jene, indem Du das Gute, das Du gegeben, erkennst;
diese, indem Du das Böse, das Du hassest, verzeihst.
o immensa bonitas quæ
sic omnem intellectum excedis
veniat super me misericordia illa quæ
de tanta opulentia tui procedit
influat in me quæ
profluit de te.
O unermeßliche Güte, die Du so sehr jedes Begreifen übersteigst,
es komme über mich das Erbarmen, das aus Deinem so großen
Reichtum quillt,
es ströme in mich, das von Dir ausströmt.
parce per clementiam
ne ulciscaris per iustitiam.
Schone durch Milde,
räche nicht durch Gerechtigkeit!
nam etsi difficile sit intelligere
quomodo misericordia tua non absit a tua iustitia
necessarium tamen est credere
quia nequamquam adversatur quod exundat ex bonitate
quæ nulla est sine iustitia
immo vere concordat iustitiæ.
Denn wenn es auch schwer ist zu verstehen,
wie Deine Barmherzigkeit nicht ferne ist Deiner Gerechtigkeit,
so ist es doch notwendig zu glauben,
daß der Gerechtigkeit durchaus nicht widerstreitet, was aus der
Güte fließt,
die es ohne Gerechtigkeit nicht gibt,
die im Gegenteil mit der Gerechtigkeit wahrhaft übereinstimmt.
nempe si misericors es quia
es summe bonus
et summe bonus non es nisi
quia es summe iustus
vere idcirco es misericors quia
summe iustus es.
Denn wenn Du barmherzig bist, weil Du höchst gut bist,
und höchst gut nur bist, weil Du höchst gerecht bist,
so bist Du in Wahrheit barmherzig, weil Du höchst gerecht bist.
adiuva me iuste
et misericors Deus cuius lucem quæro
adiuva me ut intelligam
quod dico
Hilf mir, gerechter und barmherziger Gott, dessen Licht ich suche,
hilf mir, daß ich verstehe, was ich sage.
vere ergo ideo misericors es quia iustus
ergone misericordia tua nascitur ex iustitia
tua?
ergone parcis malis ex iustitia?
si sic est Domine
si sic est doce me quomodo
est.
In Wahrheit also bist Du deshalb barmherzig, weil gerecht;
also entspringt Deine Barmherzigkeit Deiner Gerechtigkeit?
Du verschonst also die Bösen aus Gerechtigkeit?
Wenn es so ist, Herr, wenn es so ist, lehre mich, wie es ist.
an quia iustum est
te sic esse bonum ut
nequeas intelligi melior
et sic potenter operari
ut non possis cogitari potentius?
quid enim hoc iustius?
Wohl weil es gerecht ist,
daß Du so gut bist, daß Du nicht besser gedacht werden
kannst,
und so machtvoll wirkst,
daß Du nicht machtvoller (wirkend) gedacht werden kannst?
Denn was ist gerechter als das?
hoc utique non fieret
si esses bonus tantum retribuendo et non parcendo
et si faceres de non bonis tantum bonos et non
etiam de malis.
Das wäre durchaus nicht der Fall,
wenn Du gut wärest nur durch Belohnen und nicht durch Verschonen
und wenn Du Gute nur aus Nicht-Guten und nicht auch aus Bösen
machtest.
hoc itaque modo iustum est
ut parcas malis et
ut facias bonos de malis.
Auf diese Art also ist es gerecht,
daß Du die Bösen verschonst und aus Bösen Gute machst.
denique quod non iuste fit non
debet fieri
et quod non debet fieri iniuste
fit.
Schließlich, was nicht gerecht geschieht, darf nicht geschehen;
und was nicht geschehen darf, geschieht ungerecht.
si ergo non iuste malis misereris
non debes misereri
et si non debes misereri
iniuste misereris.
Wenn Du also Dich der Bösen nicht gerecht erbarmst,
darfst Du Dich nicht erbarmen;
und wenn Du Dich nicht erbarmen darfst,
würdest Du Dich ungerecht erbarmen.
quod si nefas est dicere
fas est credere te iuste misereri malis.
Wenn das zu sagen Frevel ist,
ist es Pflicht zu glauben, daß Du Dich der Bösen gerecht
erbarmst.
X. quomodo
iuste puniat et iuste parcat malis
10. KAPITEL: Wie er die Bösen gerecht bestraft und gerecht verschont
sed iustum est
ut malos punias.
Aber es ist auch gerecht,
daß Du die Bösen strafst.
quid namque iustius
quam ut boni bona et mali mala recipiant?
Denn was ist gerechter,
als daß die Guten Gutes und die Bösen Böses empfangen?
quomodo ergo et iustum est ut malos punias
et iustum est ut malis parcas?
an alio modo iuste punis malos
et alio modo iuste parcis malis?
Wie also ist es gerecht,
daß Du die Bösen strafst, und gerecht, daß Du die
Bösen verschonst?
Wohl deshalb, weil Du auf eine Weise die Bösen gerecht bestrafst
und auf eine andere Weise die Bösen gerecht verschonst?
cum enim punis malos iustum
est quia illorum meritis convenit
cum vero parcis malis iustum
est
non quia illorum meritis sed
quia bonitati tuæ condecens est.
Denn wenn Du die Bösen strafst, ist das gerecht, weil es ihren
Verdiensten entspricht;
wenn Du aber die Bösen verschonst, ist das gerecht,
nicht weil es ihren Verdiensten, sondern weil es Deiner Güte geziemt.
nam parcendo malis
ita iustus es secundum te et non secundum nos
sicut misericors es secundum nos et non secundum
te.
Denn wenn Du die Bösen schonst,
bist Du ebenso gerecht in hinsicht auf Dich und nicht mit Rücksicht
auf uns,
wie Du barmherzig bist in Rücksicht auf uns und nicht in Hinsicht
auf Dich.
quoniam salvando nos quos
iuste perderes
sicut misericors es non
quia tu sentias affectum
sed quia nos sentimus effectum
ita iustus es non
quia nobis reddas debitum
sed quia facis quod decet te summe bonum.
Denn indem Du uns rettest, die Du gerechterweise verderben würdest:
wie Du barmherzig bist, nicht weil Du eine Gemütserregung spürst,
sondern wir die Wirkung verspüren,
so bist Du gerecht, nicht weil Du uns das Schuldige erstattest,
sondern weil Du tust, was Dir, dem höchst Guten, geziemt.
sic itaque sine repugnantia iuste punis
et iuste parcis.
So also strafst Du gerecht
und verschonst gerecht ohne Widerspruch.
XI. quomodo universæ viæ
Domini misericordia et veritas
et tamen iustus Dominus in omnibus viis suis
11. KAPITEL: Wie "alle Wege des Herrn Erbarmen und Wahrheit",
und doch: "gerecht der Herr auf allen seinen Wegen".
sed numquid etiam non est iustum secundum te
Domine
ut malos punias?
Aber ist es etwa auch in Hinsicht auf Dich nicht gerecht, Herr,
daß Du die Bösen strafst?
iustum quippe est te sic esse iustum
ut iustior nequeas cogitari.
Es ist ja gerecht, daß Du so sehr gerecht bist,
daß Du nicht gerechter gedacht werden kannst.
quod nequaquam esses
si tantum bonis bona
et non malis mala redderes.
Das wärest Du keineswegs,
wenn Du nur den Guten Gutes
und nicht den Bösen Böses vergelten würdest.
iustior enim est qui et bonis et malis
quam qui bonis tantum merita retribuit.
Denn gerechter ist der, der sowohl Guten wie Bösen,
als der, der nur Guten nach Verdienst vergilt.
iustum igitur est secundum te
iuste et benigne Deus
et cum punis et cum parcis.
Mithin ist es in Hinsicht auf Dich gerecht, gerechter und gütiger
Gott,
wenn Du strafst und wenn Du schonst.
vere igitur "universæ viæ Domini
misericordia et veritas"
et tamen "iustus Dominus in omnibus viis suis"
[Ps 22,10; 144,17].
In Wahrheit also: "alle Wege des Herrn Erbarmen und Wahrheit";
und dennoch: "gerecht der Herr auf allen seinen Wegen".
et utique sine repugnantia
quia quos vis punire non
est iustum salvari
et quibus vis parcere non
est iustum damnari.
Und durchaus ohne Widerspruch;
denn daß die gerettet werden, die Du strafen willst, ist nicht
gerecht,
und daß die verdammt werden, die Du verschonen willst, ist nicht
gerecht.
nam id solum iustum est quod vis
et non iustum quod non vis.
Denn das allein ist gerecht, was Du willst,
und nicht gerecht, was Du nicht willst.
sic ergo nascitur de iustitia tua misericordia
tua
quia iustum est te sic esse bonum
ut et parcendo sis bonus.
So also entspingt aus Deiner Gerechtigkeit Deine Barmherzigkeit,
weil es gerecht ist, daß Du so gut bist,
daß Du auch durch Schonen gut bist.
et hoc est forsitan
cur summe iustus potest velle bona malis.
Und das ist es vielleicht,
warum der höchst Gerechte Bösen Gutes wollen kann.
sed si utcumque capi potest cur
malos potes velle salvare
illud certe nulla ratione comprehendi potest
cur de similibus malis hos magis salves quam
illos per summam bonitatem
et illos magis damnes quam istos per summam iustitiam.
Aber wenn es allenfalls zu verstehen ist, warum Du Böse retten
wollen kannst:
Das kann man gewiß auf keine Weise begreifen,
warum Du aus gleich Bösen diese eher als jene aus höchster
Güte rettest,
und jene eher als diese aus höchster Gerechtigkeit verdammst.
sic ergo vere es sensibilis omnipotens
misericors et impassibilis
quemadmodum vivens sapiens
bonus beatus
æternus
et quidem melius esse quam non esse.
So also bist Du wahrhaft empfindend, allmächtig, barmherzig und
leidensunfähig,
wie lebend, weise, gut, selig, ewig
und was immer besser ist zu sein als nicht zu sein.
XII. quod Deus sit ipsa vita
qua vivit
12. KAPlTEL: Daß Gott das Leben selber ist, durch das er lebt;
sed certe quidquid es
non per aliud es quam per teipsum.
Aber gewiß, was immer Du bist,
bist Du nicht durch etwas anderes als durch Dich selber.
tu es igitur ipsa vita qua vivis
et sapientia qua sapis
et bonitas ipsa qua bonis et malis bonus es
et ita de similibus.
Du bist also das Leben selbst, durch das Du lebst,
die Weisheit, durch die Du weise bist,
und die Güte selbst, durch die Du Guten und Bösen gut bist;
und so ähnlich.
Inhaltsverzeichnis:
prooemium
I. excitatio mentis
ad contemplandum Deum.
II. quod vere sit Deus.
III. quod non possit cogitari non
esse.
IV. quomodo insipiens dixit in corde,
quod cogitari non potest.
V. quod Deus sit quidquid
melius est esse quam non esse
Vorwort
1. Erweckung des Geistes zur Betrachtung Gottes.
2. Daß in Wahrheit Gott IST.
3. Daß nicht gedacht werden kann, daß er nicht IST.
4. Wie der Tor im Herzen gesprochen hat was nicht gedacht werden kann.
5. Daß Gott all das ist, was besser ist zu sein als nicht zu
sein;
und daß er, allein durch sich bestehend, alles
andere aus dem Nichts erschafft.
VI. quomodo sit sensibilis, cum
non sit corpus.
VII. quomodo sit omnipotens, cum
multa non possit.
VIII. quomodo sit misericors er
impassibilis.
IX. quomodo totus iustus er summe
iustus parcat malis
X. quomodo iuste puniat et iuste parcat
malis.
XI. quomodo universæ viæ
Domini misericordia et veritas
6. Wie er empfindet, obgleich er nicht Körper ist.
7. Wie er allmächtig ist, obgleich er vieles nicht kann.
8. Wie er barmherzig und leidensunfähig ist.
9. Wie der ganz Gerechte und höchst Gerechte die Bösen verschont;
und daß er gerecht sich der Bösen erbarmt.
10. Wie er die Bösen gerecht bestraft und gerecht verschont.
11. Wie alle Wege des Herrn Erbarmen und Wahrheit,
und doch: gerecht der Herr auf allen seinen Wegen.
XII. quod Deus sit ipsa vita qua
vivit
XIII. quomodo solus sit
incircumscriptus et æternus
XIV. quomodo et cur videtur
er non videtur Deus a quærentibus eum.
XV. quod maior sit
quam cogitari possit.
XVI. quod hæc
sit lux inaccessibilis quam inhabitat.
XVII. quod in Deo sit
harmonia odor sapor lenitas
12. Daß Gott das Leben selbst ist, durch das er lebt;
13. Wie er allein unbegrenzt und ewig ist,
obgleich andere Geister uinbegrenzt und ewig sind.
14. Wie und warum Gott von denen, die ihn suchen, gesehen und nicht gesehen
wird.
15. Daß er größer ist, als gedacht werden kann.
16. Daß dies das unzugängliche Licht ist, in dem er wohnt.
17. Daß in Gott Wohlklang, Wohlgeruch, Wohlgeschmack, Sanftheit
und Schönheit
auf seine unaussprechliche Weise sind.
XVIII. quod in Deo
nec in æternitate eius quæ ipse est nullæ sint partes.
XIX. quod non sit in
loco aut tempore sed omnia sint in illo.
XX. quod sit ante et
ultra omnia etiam æterna.
XXI. an hoc sit sæculum
sæculi sive sæcula sæculorum.
XXII. quod solus sit
quod est er qui est.
XXIII. quod hoc bonum
sit pariter Pater er Filius et Spiritus Sanctus
XXIV. coniectatio quale
et quantum sit hoc bonum.
XXV. quæ et quanta
bona sint fruentibus eo.
XXVI. an hoc sit gaudium
plenum quod promittit Dominus.
18. Daß weder in Gott noch in seiner Ewigkeit, die er selbst
ist, Teile sind.
19. Daß er nicht an einem Ort oder in der Zeit ist, sondern alles
in ihm ist.
20. Daß er vor allen Dingen und über alle Dinge, auch die
ewigen, hinaus ist.
21. Ob das die Ewigkeit der Ewigkeit oder die Ewigkeiten der Ewigkeiten
ist.
22. Daß er allein ist, was er ist und der er ist.
23. Daß dieses Gut in gleicher Weise Vater und Sohn und Heiliger
Geist ist;
und daß dieses das eine Notwendige ist, das das gesamte und ganze
und alleinige Gut ist.
24. Mutmaßung, von welcher Art und Größe dieses Gut ist.
25. Welche und wie hohe Güter die haben, die es genießen.
26. Ob das die vollkommene Freude ist, die der Herr verspricht.